Corona
Tarifpflicht: “Hier wird gerade viel Vertrauen verspielt”
Die Zeit wird knapp: Zum 1. September gilt deutschlandweit die neue Tarifregelung. Doch hinter den Kulissen brodelt es gewaltig. Träger versuchen gerade händeringend, neue Vergütungen abzuschließen. Doch eine einheiltiche Strategie der Kostenträger fehlt. Droht nun das Chaos? Altenheim sprach darüber mit VDAB-Vorsitzenden Stephan Baumann.

Herr Baumann, die gesamte Pflegebranche blickt auf den Stichtag 1. September: Wie sehen Sie die Einrichtungen und auch die Kostenträger auf die Umsetzung der Tariftreue-Regelung vorbereitet? Wie laufen derzeit die Pflegesatzverhandlungen? Geben Sie uns einen kurzen Einblick aus Ihren Mitgliedeinrichtungen.
Die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben aus dem GVWG sind eine Mammutaufgabe und eine echte Zumutung für Einrichtungen und ihre Verbände. Das liegt vor allem daran, dass sich der Gesetzgeber an völlig unrealistische Zeitpläne klammert. Gleichzeitig erledigen Ministerien und Kassen auf Bundes- und Landesebene ihre Hausaufgaben entweder gar nicht oder sehr verspätet. Dies führt nun vor Ort zu chaotischen Verhältnissen. Träger ambulanter und stationärer Einrichtungen versuchen nun gleichzeitig und völlig überhastet irgendwie zum 01.09.2022 an neue Vergütungen zu kommen, die eine Umsetzung der Tarifpflicht ermöglichen. Bei den Kostenträgern gibt es darüber hinaus keine einheitliche Strategie, wie die Antragsflut fristgerecht bewältigt werden soll und auch kein einheitliches inhaltliches Vorgehen in den Verhandlungen. Dies gilt insbesondere bei Anwendung des regional üblichen Entgeltniveaus. Das Verhalten der Kostenträger reicht im Ländervergleich von pauschaler Ablehnung von Verhandlungen bis zum massenhaften Durchwinken. Alles geht nur nach dem Motto: „Was muss, das muss“ und die wirtschaftlichen Auswirkungen auf Einrichtungen und Pflegebedürftige werden sich erst später zeigen. Hier wird gerade viel Vertrauen verspielt und Unternehmen im ungünstigsten Fall in Existenznöte gebracht. Das alles nur, damit die Bundesregierung bei der tarifgerechten Bezahlung fristgerecht Vollzug melden kann.
Aus einigen Einrichtungen hört man schon von Steigerungen der Kosten im vierstelligen Bereich. Welche Erfahrungswerte machen Sie?
Steigerungen im hohen dreistelligen Bereich sind in vielen Ländern die Regel. Vor allem in den ostdeutschen Bundesländern und in Niedersachsen, die sich in der Vergangenheit bei der Refinanzierung von Personalkosten sehr „zurückgehalten“ haben, kann es durchaus zu Steigerungen im vierstelligen Bereich kommen. Damit wird der Entlastungseffekt aus dem GVWG hinsichtlich des Eigenanteils schnell verpuffen und Pflegebedürftige werden massenhaft zu Sozialhilfeempfängern. Wie Pflege in Zukunft bezahlbar bleiben soll, wird die entscheidende Frage der nächsten Jahre sein und seriöse Konzepte sind politisch nicht in Sicht. Gleichzeitig meldet der GKV-Spitzenverband ein Rekorddefizit in der Pflegeversicherung und mahnt eine nachhaltige Finanzreform an, die nicht nur auf Steuerzuschüsse setzt.
Nicht nur die Tariftreue – und auch das neue Personalbemessungsverfahren – werden die Pflege stationär teurer machen. Auch die extrem steigenden Energiepreise sowie die steigenden Bau- und Modernisierungskosten tragen dazu bei. Wie bewerten Sie hier die Lage in den Einrichtungen?
Es wird sich noch zeigen, welchen finanziellen Effekt das neue Personalbemessungsverfahren haben wird. Denn auch die bestehenden Programme zur Mehrpersonalisierung mit 20.000 zusätzlich Fachkräften und 13.000 Hilfskräften sind trotz voller Refinanzierung am leer gefegten Arbeitsmarkt gescheitert. Sollten die gesetzlich avisierten Personalmengen erfüllt werden können, so wird dies zweifelsohne zu einer nochmaligen deutlichen Preissteigerung führen. Ein zusätzlicher Effekt kommt schon jetzt aus den explodierenden Energiekosten. Hier ist es wichtig, dass mit den Kostenträgern kurzfristige Lösungen ggf. auch außerhalb regulärer Pflegesatzverhandlungen gefunden werden, da dies sonst schnell existenzbedrohend werden kann. Viele Bau- und Modernisierungsmaßnahmen liegen derzeit auf Eis, weil die finanzierenden Banken und die Träger die Kosten nicht seriös kalkulieren können.
Im Rahmen des Altenheim Management Kongresses im September in Köln gehen Sie auf das Thema „Investitionskosten verhandeln“ ein. Warum ist das vor diesem Hintergrund so wichtig?
Aufgrund der Tatsache, dass sich das Verhältnis zwischen Sozialhilfeempfängern und Selbstzahlern deutlich verschieben wird, werden Neuverhandlungen von Investitionskosten schnell in den Fokus rücken. Dies liegt vor allem daran, dass nicht geförderte Einrichtungen ihre tatsächlichen Investitionsaufwendungen bisher nur den Selbstzahlern in Rechnung stellen konnten, während die Sozialhilfeträger sich nahezu flächendeckend um eine auskömmliche Finanzierung gedrückt haben. Hier zeichnet sich zukünftig ein Konfliktfeld mit den Sozialhilfeträgern ab, denn Träger werden es sich nicht mehr leisten können, die niedrigeren Investitionskostensätze der Sozialhilfe aufrechtzuerhalten. Zielsetzung muss sein, dass die Sozialhilfeträger ihre Verantwortung wahrnehmen und für eine ausreichende Finanzierung sorgen. In den Verhandlungen ist dies konsequent einzufordern.
Veranstaltungstipp
Am 21. und 22. September findet in Köln der Altenheim Management Kongress 2022 statt. Es geht um die neue Personalbemessung ab Juli 2023 und die Tarifpflicht ab September 2022, wertschätzende Führung und Motivation, aktuelle Rechts- und Vergütungsthemen und Digitalisierung. Im Fokus stehen außerdem: das neue Betreuungsrecht, Qualitätsprüfungen und Pflegegradmanagement, Quartierskonzepte, die Pflegeausbildung und internationale Pflegefachkräfte. Zu den Infos und Anmeldung
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