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Pflegegrade verändern sich nach Überleitung
Unsere aktuelle Umfrage unter Pflegeheimbetreibern zeigt, dass sich die Pflegegradstruktur im Vergleich zum Überleitungsstichtag am 01.01.2017 signifikant nach unten verschoben hat. Bei gleichbleibenden Personalschlüsseln und konstanter Belegung ergeben sich Defizitrisiken.

Einer der großen Unsicherheitsfaktoren im Rahmen der Umstellungen der Pflegestärkungsgesetze bestand und besteht weiterhin in der Ungewissheit in Bezug auf die Entwicklung der Pflegegradstruktur. Die Überleitungsregelungen haben zu einer zurzeit hochwertigen, aber tendenziell "überblähten" Bewohnerstruktur geführt, die sich langfristig hin zu niedrigeren Pflegegraden verschieben wird. Das Ausmaß dieses Austausch-Vorgangs, der auch als "Rothgang-Effekt" bezeichnet wird, lässt sich allerdings bislang für die wenigsten Träger absehen. Um diese Ungewissheit abzubauen, hat die rosenbaum nagy unternehmensberatung einen Benchmarkvergleich der Pflegegradstrukturveränderung initiiert.
Insgesamt haben sich bislang 130 Einrichtungen mit über 10.000 Bewohnern aus ganz Deutschland an der Befragung beteiligt. Die Befragung findet quartalsweise statt.
Bei der Betrachtung der Pflegegradstrukturveränderung ist im besonderen Maße der Vergleich mit der Überleitungspflegegradstruktur von Relevanz. Ausgehend von der Überleitungspflegegradstruktur wurde der einrichtungseinheitliche Eigenanteil (EEE) im Rahmen der budgetneutralen Überleitung bestimmt. Im neuen System der EEE und Pflegegrade findet eine Quersubventionierung der unterschiedlichen Pflegegrade statt. Je nach Einrichtungs- und Länderspezifika führen einzelne Pflegegrade zu einem positiven und andere zu einem negativen Deckungsbeitrag. Im Zeitpunkt der Überleitung gleichen sich diese negativen und positiven Deckungsbeiträge gegenseitig aus.
Problematisch wird es hingegen, wenn sich die Pflegegradstruktur nach der Überleitung verändert. Bereits im Vorfeld der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes stand fest, dass die Überleitung der Pflegebedürftigen von Pflegestufen in Pflegegrade mit einem einfachen oder doppelten Stufensprung keine versorgungbedarfsgerechte Überleitung darstellt. Im Rahmen der EVIS Studie untersuchten die Forscher der Universität Bremen und Prof. Rothgang u.a. genau diese Problematik. Aus den Ergebnissen dieser Studie wurde der sogenannte Rothgang-Effekt abgeleitet. Vereinfacht gesagt, bedeutet er, dass die Pflegegradstruktur der Überleitung systembedingt aufgebläht ist. Nach der Überleitung haben viele Pflegebedürftige insbesondere in den hohen Pflegegraden einen Pflegegrad, den sie bei Neubegutachtung mit Hilfe des neuen Begutachtungsinstruments (NBI) nicht bekommen würden. Sie wurden durch die Überleitung zu hoch eingestuft. Ausgehend von der normalen Fluktuation ist davon auszugehen, dass die nachrückenden Kunden, die nach dem NBI begutachtet wurden, einen niedrigeren Pflegegrad haben, als die die übergeleitet wurden.
Es ist daher davon auszugehen, dass langfristig der durchschnittliche Pflegegrad sinken wird. Dies hat neben der Veränderung der Bewohnerstruktur auch betriebswirtschaftliche Konsequenzen. Jede Veränderung der Pflegegradstruktur führt zu einer Verschiebung der im Rahmen der Überleitung erstellten Mischkalkulation- es drohen je nach Ausmaß der Veränderungen erhebliche Verlustrisiken.
In diesem Kontext kommt der Überwachung der Pflegegradstrukturveränderung in Verbindung mit der Analyse der Deckungsbeiträge eine herausragende Bedeutung zu. Ausgehend von den Rückmeldungen des Benchmark-Vergleichs, lassen sich die prognostizierten Verschiebungen bereits nach dem ersten Halbjahr des Jahres 2017 erkennen. Im gewichteten Mittelwert aller Rückmeldungen hat sich die Pflegegradstruktur am Stichtag 30.06.2017 wie folgt im Gegensatz zur Überleitung verändert (Veränderung in Prozentpunkten im Vergleich zum %-Anteil an der gesamten Bewohnerschaft am Überleitungsstichtag).
Ausgehend von den Einrichtungsrückmeldungen erfolgt ein Austausch der hohen Pflegegrade 4 und 5 durch Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 und 3. Vor dem Hintergrund, dass sich diese Entwicklung im Verlauf des Jahres weiter dynamisieren wird, kann von einer sich deutlichen Entwicklung gesprochen werden. Die Bedeutung für die Steuerung von Altenhilfeeinrichtungen lässt sich an einem einfachen Berechnungsbeispiel erläutern. Eine Einrichtung mit 100 Bewohnern hat folgende Deckungsbeiträge je Pflegegrade (Werte sind gerundet, aber in realistischer Größenordnung): Pflegegrad 2 (PG 2): -150 €, PG 3: -50 €, PG 4: +50 €, PG 5: 150 €. Bei Verwendung der oben dargestellten Veränderungen würden 2,39 Bewohner aus Pflegegrad 5 ausziehen und der Einrichtung somit monatlich 2,39 x 150 € entgehen. Gleichzeitig würden 2,4 Bewohner mit PG 2 einziehen, es ergibt sich ein Defizit von 2,4 X 150 €. Weitere negative Effekte geringerer Größenordnung ergeben sich bei der Verschiebung der PG 3 und 4. Aufsummiert würde sich in diesem Anschauungsbeispiel ein monatliches Defizit in Höhe von 870 € ergeben oder ein jährliches Defizit von ca. 10.000 € je Jahr – und das unter der Annahme, dass die Personalschlüssel jederzeit eingehalten werden. Diese Effekte werden sich im weiteren Jahresverlauf verschärfen.
Es ist daher von grundlegender Bedeutung, die aufgezeigten Entwicklungen der Pflegegradstruktur engmaschig zu untersuchen und die relevanten Kennzahlen (Deckungsbeiträge je Pflegegrad etc.) systematisch zu erheben. Zudem kommt der anstehenden Pflegesatzvergütungsverhandlung eine zentrale Rolle bei. Gelingt es hier, einen realistischen und für die Einrichtung vorteilhaften Pflegegradmix zu verhandeln, können die beschriebenen Risiken zum einen als solche geltend gemacht werden und zum anderen auch in unternehmerische Gestaltungsspielräume umgewandelt werden. Bei einer sich andeutenden Negativentwicklung sollte auch die Pflegesatzvereinbarung auf Basis von Sonderkündigungsrechten vorzeitig gekündigt werden.
Roman Tillmann (Diplom-Kaufmann, Geschäftsführender Partner bei der rosenbaum nagy unternehmensberatung GmbH), E-Mail: tillmann@rosenbaum-nagy.de, Telefon 0221 – 5 77 77 50
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