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Koalitionsvertrag: Was die Altenhilfe erwartet

Nach kurzer Zeit und mit bemerkenswerter Disziplin hat die neue „Ampel-Regierung“ einen 177 Seiten langen Koalitionsvertrag vorgelegt. Eine erste Einschätzung der wichtigsten Kerninhalte für die Altenhilfe.

Foto: rosenbaum-nagy Attila Nagy ist geschäftsführenden Partner der rosenbaum nagy unternehmensberatung in Köln.

Anpassungsbedarf in der Personalstrategie

Das Thema Fachkräftemangel wird sowohl im allgemeinen als auch im speziellen Teil für die jeweiligen sozialen Versorgungsbereiche aufgegriffen. Auch hier bleibt es teilweise bei altbekannten Beteuerungen, dass Anerkennungsverfahren von Berufsabschlüssen und Bürokratie vereinfacht werden.

Speziell für Pflegekräfte finden sich auch explizite Vorhaben zur Erhöhung der Attraktivität des Berufes. Sowohl im Krankenhaus als auch in Pflegeheimen sollen die Personalbemessungsverfahren zügig eingeführt bzw. ausgebaut werden. Die Gehaltslücke zwischen Alten- und Krankenpflege soll geschlossen werden.

Einige weitere Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufes werden konkret benannt. So sollen Zuschläge steuerfrei, geteilte Dienste abgeschafft und Springerpools eingeführt werden. Bei den letzten beiden Punkten wird es interessant sein zu beobachten, wie der Gesetzgeber diese eigentlich tariflichen Fragen lösen möchte und ob sich dies in der Praxis umsetzen lässt. Beide sehr wünschenswerten Gestaltungselemente stoßen in der Umsetzung schnell an Grenzen, wenn gleichzeitig die Kostenträger hierdurch entstehende Extrakosten möglicherweise nicht anerkennen. Außerdem ist ein pauschaler Schutz von Mitarbeitenden vor geteilten Diensten möglicherweise nicht sachgerecht, denn für einige Menschen kann dies eine attraktive Alternative sein, um hierdurch höhere Stellenanteile und ein höheres Einkommen zu erlangen. Hier wäre es aus unserer Sicht sinnvoller, diese finanziell attraktiver zu gestalten, um freiwilligen Anwendungen den Weg zu ebnen bei denjenigen, für die ein solches Einsatzfeld interessant sein kann. Und gerade in ambulanten Einsatzfeldern oder zur Verwirklichung der Personenzentrierung sind kürzere Schichten erforderlich, für die man jedoch möglicherweise nicht ausreichend Arbeitskräfte rekrutieren kann.

Für die Berufsfelder der Pflegeassistenz, soll es ein bundeseinheitliches Berufsgesetz und eine Finanzierung durch Bund und Länder geben. Mit Blick auf den kurzfristigen erheblichen Qualifizierungsbedarf von Pflegeassistenzkräften in Pflegeheimen bis Mitte 2023 wäre es wünschenswert gewesen, auch Regelungen auf den Weg zu bringen, die den interessierten und häufig in der Lebensmitte stehenden Mitarbeitenden bzw. ihren Arbeitgebern es finanziell ermöglichen, diese Weiterbildung zu machen.

Die grundsätzlich begrüßenswerte Anhebung des Mindestlohnes wird bei bisher nicht tarifgebundenen Trägern in niedrigen Vergütungsgruppen einige Herausforderungen mit sich bringen. Trotz einer Anhebung der Verdienstgrenzen bei Minijobs auf 520 Euro sinken durch die Anhebung der Vergütung die pro Monat einsetzbaren Stunden, so dass personelle Lücken entstehen können. Betroffen sein können insbesondere Mitarbeitende der Fahrdienste oder der Hauswirtschaft. In einigen Fällen kann es interessant sein, die Beschäftigungsverhältnisse auf reguläre Teilzeit oder Midijobs (hier wurden die Grenzen deutlich auf 1.600 Euro angehoben) umzustellen, was allerdings bei Mitarbeitenden, die die Minijobs als Zweitjobs ausführen, schwierig sein kann. Und in jedem Fall müssen die Vergütungssätze auch entsprechend angepasst werden, was mit pauschalen Fortschreibungen nicht möglich sein wird. Daher werden eine Reihe von Einzelverhandlungen anstehen.

Die nächsten Reformen in der Pflege zeichnen sich ab

Im Bereich Pflege scheint die Koalition erkannt zu haben, dass die Mogelpackung der sogenannten Entlastung der Pflegebedürftigen bei den Eigenanteilen in Pflegeheimen nicht durchzuhalten ist. Denn die in diesem Jahr beschlossenen Reformen des GVWG (Tarifpflicht, Mehrpersonalisierung) führen in den meisten Regionen zu einer förmlichen Kostenexplosion für die Pflegebedürftigen bzw. die Sozialhilfeträger, die durch die bescheidene stufenweise Übernahme der Eigenanteile in den meisten Fällen nicht ansatzweise kompensiert werden. Wörtlich heißt es: „Wir werden in der stationären Pflege die Eigenanteile begrenzen und planbar machen. Die zum 1. Januar 2022 in Kraft tretende Regelung zu prozentualen Zuschüssen zu den Eigenanteilen werden wir beobachten und prüfen, wie der Eigenanteil weiter abgesenkt werden kann.“ Allerdings sind die Ausführungen sehr vage bzw. die konkret angedeuteten Maßnahmen stellen weiterhin keine grundlegenden Veränderungen dar, wie dies etwa der „Sockel-Spitzen-Tausch“ wäre. Aber die Problematik scheint zumindest erkannt worden sein.

Der mit dem PSG 3 eingeschlagene Weg, den Kommunen mehr Mitspracherecht bei der Gestaltung der pflegerischen Infrastruktur und auch der Versorgungsverträge einzuräumen, soll weitergeführt werden. In diesem Zusammenhang sollen quartiersnahe Angebote auch ins SGB XI aufgenommen werden, wobei nicht weiter konkretisiert ist, ob sie auch in die Regelfinanzierung übernommen werden sollen. Vielmehr ist im Koalitionsvertrag von einer gemeinsamen Förderung durch Bund, Länder und Kommunen die Rede – ob nur als Projekt oder auf Dauer, ist noch nicht klar. Aber so lange es kein dauerhaftes und belastbares Finanzierungsmodell für die Quartiersentwicklung gibt, sind keine signifikanten Fortschritte zu erwarten. Und auch eine klarere Regelung zu den Gesamtversorgungsverträgen mit mehr Anreizen wäre ein wichtiger Beitrag gewesen, um die quartiersnahe Versorgung zu stärken.

Erfreulicherweise bekennt sich die Koalition zum Ausbau der Angebote der Kurzzeit-, Nacht- und Tagespflege. Gerade bei der Tagespflege stand im Gesetzentwurf aus dem Frühjahr 2021 noch eine Budgetkürzung im Raum. Wir würden angesichts der zu erwartenden Kostenexplosion in der Pflege aber nicht ausschließen, dass das Thema der Stapelleistungen im ambulanten Bereich nicht doch wieder auf die Tagesordnung kommt.

Verlierer ambulante Pflege?

Es wird im Koalitionsvertrag deutlich, dass die künftige Regierung weiter große Hoffnungen auf den größten Pflegedienst, nämlich die Angehörigen, setzt. Das Pflegegeld soll ab 2022 regelmäßig dynamisiert werden – und zugleich steht kein Wort über die Dynamisierung der ambulanten Sachleistungsbudgets im Vertrag. Sollte dies kein redaktionelles Versehen sein, dann ist für die ambulante Versorgung durch Pflegedienste bzw. für die Pflegebedürftigen, die nicht durch Angehörige versorgt werden, eine faktische Verschlechterung zu erwarten und dann wäre die ambulante Pflege auch nach dem Willen der neuen Koalition Verliererin der Veränderungen.

Bereits die Pflegereform 2021 (GVWG) führte zu kleinen finanziellen Verbesserungen für die stationäre Pflege und zu keinen Verbesserungen für die ambulante Pflege. Im Gegenteil: die Einführung der Tarifpflicht erhöht durch die notwendigen Preisanhebungen bei bisher nicht tarifgebundenen Trägern das allgemeine Preisniveau, so dass die Pflegebedürftigen mit dem unveränderten Sachkostenbudget künftig weniger Unterstützungsleistungen einkaufen können. Hinzu kommen die indirekten Effekte durch die Mehrpersonalisierung der Pflegeheime, denn durch den höheren Bedarf an Arbeitskräften und die dann möglichen höheren Stellenanteile auch für nichtexaminierte Kräfte in den Heimen dürfte eine Sogwirkung auf die Pflegekräfte in der ambulanten Pflege entstehen. Wenn der neuen Regierung der Grundsatz „ambulant vor stationär“ am Herzen liegt, muss in diesem Bereich dringend nachgesteuert werden.

Die langerwartete Zusammenführung der Budgets der Kurzzeit- und Verhinderungspflege soll nunmehr umgesetzt werden. Und zwar in einem unbürokratischen Entlastungsbudget, aber mit Nachweispflicht – und dies in einem Satz: Man sieht, dass das Papier scheinbar nicht ganz ohne Ironie auskommt.

In der ambulanten Intensivpflege soll evaluiert werden, ob die Regelungen des IPReG weiterhin eine freie Wahl des Wohnortes ermöglichen. Für die 24-Stunden-Versorgung im familiären Umfeld soll es eine rechtssichere Grundlage geben.

Halbherzige Grundlagen für die Digitalisierung in der Sozialwirtschaft

Die Digitalisierung im Gesundheits- und Sozialwesen soll zügig vorangetrieben werden, etwa durch weitere digitale Anwendungen in der telemedizinischen Versorgung und eine beschleunigte Umsetzung der elektronischen Patientenakte (ePA). Die Dokumentationspflichten sollen im Sinne der Entbürokratisierung reduziert bzw. zunehmend digitalisiert werden. Leider finden sich keine Ausführungen zur Finanzierung der hierfür erforderlichen Investitionen. Solange Investitionskosten in vielen Leistungsfeldern gedeckelt sind, sind die Träger mit der Finanzierung der erheblich steigenden IT-Kosten alleingelassen. Hier wären Klarstellungen, dass diese Kosten seitens der Kostenträger, möglicherweise mit einem zusätzlichen Digitalbudget, gesondert anzuerkennen sind, wünschenswert. Denn dies ist in vielen Fällen ein wesentlicher Hemmschuh für die erforderlichen Investitionen.

Fazit

In vielen Bereichen bleibt der Koalitionsvertrag vage, insbesondere hinsichtlich Finanzierungsfragen. Es wird jedoch deutlich, dass die Koalitionspartner viele Baustellen auf dem Zettel haben und auch gewillt sind, die Themen voranzutreiben. Die Altenhilfe, und darüber hinaus alle wesentlichen Leistungsfelder der Sozialwirtschaft dürfen sich perspektivisch aber wieder einmal auf weitere Veränderungen einstellen. Dabei haben wir die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass vielleicht dieser Regierung eine umfassende Reform gelingt, die den aktuellen Flickenteppich an gesetzlichen Regelungen ablöst.

Attila Nagy ist geschäftsführender Partner der rosenbaum nagy unternehmensberatung GmbH