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Das Schweigen in der Pflege
Der offene Brief von Jana L. an Bundeskanzlerin Merkel ging unlängst durch die Presse. Die Krankenschwester sprach offen an, welche gefährlichen Auswirkungen der Pflegenotstand hat. Die Pflege will aufrütteln – jedoch meist anonym. So wie eine Auszubildende, die mir eine bedenkliche Situation schilderte.

Dieser Tage erreichte mich aus Baden-Württemberg das Schreiben einer Auszubildenden in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege. Sie reagierte auf meinen Aufruf an Pflegeschülerinnen und -schüler mir mitzuteilen, warum sie sich für die Pflegeausbildung entschieden haben und wie ihr Alltag ausschaut. Der erste Satz des Schreibens enthielt die Bitte, ihren Brief zu veröffentlichen – jedoch anonym. Oha, dachte ich, was wird da kommen.
Die Pflegeschülerin schildert mir eine Schicht auf ihrer Station: "Wie wir alle wissen, herrscht in Deutschland Pflegenotstand, dieser macht sich auch bei uns im Krankenhaus bemerkbar, wenn sich z.B. eine examinierte Fachkraft zum Spätdienst am Wochenende krank meldet und keiner für sie einspringt. Ich finde dies völlig verständlich, wenn die Überstunden der Festangestellten schon im 3-stelligen Bereich liegen. Allerdings hört mein Verständnis auf, wenn ich als Auszubildende im 2. Lehrjahr das ausgleichen muss. In dieser Spätschicht (12:52h bis 21:00h) am Samstagnachmittag waren wir eine examinierte Pflegefachkraft, eine Pflegeassistentin in Ausbildung und ich."
Sie beschreibt weiter wie sie durch diesen Arbeitstag kommt. Normalerweise würden zwei Fachkräfte sich die Station aufteilen, während Auszubildende nur mitlaufen und einzelne Aufgaben entsprechend ihrem Ausbildungsstand übernehmen, sich bei Fragen aber jederzeit an die examinierten Pflegekräfte wenden können. Stattdessen wird die Pflegeschülerin alleine losgeschickt: Ich gehe von Zimmer zu Zimmer, dokumentiere nebenher noch meine Tätigkeiten und warte darauf, dass die examinierte Fachkraft zu mir dazu stößt und mithilft, aber ich warte vergeblich. Den Durchgang beende ich gegen 17:00h, zum Glück bekam ich Unterstützung von der Pflegeassistentin u.a. beim Lagern der pflegebedürftigen Patienten und beim Inkontinenzhosen wechseln. Ich bat diese um 16:30h das Essen auszuteilen, dafür bekam sie von der anderen Auszubildenden Unterstützung, welche eigentlich Feierabend gehabt hätte. Die examinierte beschäftigte sich im Stationszimmer.
Die examinierte Fachkraft, die sie begleiten und anleiten soll, ist in weiten Teilen der Schicht gar nicht greifbar. Erst kurz vor Ende der Schicht übernimmt sie zwei Neuzugänge. Fazit der Pflegeschülerin: Was sie sonst in der Spätschicht gearbeitet hat weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie mich weder unterstützt noch angeleitet hat und mich mit fast 40 Patienten allein gelassen hat. Ich frage mich, mit welchem Gewissen ist diese examinierte Pflegefachkraft nach Hause gegangen, wie konnte sie diese Spätschicht verantworten? Ich hingegen war müde, wütend, enttäuscht und traurig. Ich arbeite gerne und ich übernehme gerne auch einen Teil der Verantwortung, sonst lerne ich nicht dazu, aber das war mir zu viel."
Was ist da los, habe ich mich gefragt? Wo liegt hier denn der Hase im Pfeffer? Und warum muss eine solche Realitätsbeschreibung anonym veröffentlich werden? Wie können wir die Situation in der Pflege – für alle Beteiligten – verbessern, wenn so wenige wirklich Ross und Reiter nennen? Wenn Auszubildende Probleme nicht offen ansprechen können, wenn Pflegekräfte Missstände zwar kennen, aber sie quasi mittragen, aus Angst vor Repressalien.
Herrscht in dieser Branche eine kollektive Angst, Probleme zu benennen? Lähmt sich die Pflegebranche selbst? Und vergibt sie damit nicht auch die Chance, aus Fehlern zu lernen? Für mich stellt sich auch die Frage nach der Rolle der Führungskräfte. Gerade die Führungskräfte in der Pflege – die Einrichtungsleitungen, die PflegedirektorInnen, die Pflegedienstleitungen – sind für das Personalmanagement extrem wichtig. Bei ihnen laufen die Fäden zusammen. Sie geben auch vor, wie mit Kritik oder Fehlern umgegangen wird. Sie sollten für Transparenz sorgen.
Ich würde mir wünschen, dass hier alle viel mutiger und offener werden. Denn es braucht Mut und Offenheit, sich der Realität zu stellen und ein konstruktives Fehlermanagement zu ermöglichen. Aber nur dann, wenn Missstände und Fehlentwicklungen benannt werden, können sie erkannt und behoben werden. Und eine engagierte Auszubildende müsste keinen anonymen Brief mehr schreiben.
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