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Handlungsfähigkeit erhalten – Pflegesatzverhandlungen sorgfältig vorbereiten

Seit gut einem Jahr sind die Pflegestärkungsgesetze in Kraft und es könnte das trügerische Zwischenfazit gezogen werden, dass die Branche den Systemwechsel im Großen und Ganzen gut überstanden hat. Trügerisch deshalb, weil es vielen Trägern auf den ersten Blick wirtschaftlich gut geht, die hierfür verantwortlichen Effekte unter Umständen aber von kurzfristiger Natur sind und langfristig durch bestehende Risiken überlagert werden können.

Tillmann Roman
- Roman Tillmann, rosenbaum nagy

Die landesspezifischen Überleitungsvereinbarungen umfassten unterschiedliche Verbesserungen der Vergütung für die Träger. Diese sollten zum einen dem erwarteten Effekt der Verschlechterung der Pflegegradstruktur entgegenwirken und zum anderen zu einer Verbesserung der Personalausstattung führen. In der kurzfristigen Betrachtung verleiten sie jedoch zu falschen Schlüssen in Bezug auf die tatsächliche wirtschaftliche Situation einzelner Einrichtungen. Dies liegt vornehmlich an zwei zentralen Faktoren: der sogenannte Rothgang-Effekt ist eine langfristige Entwicklung und die vereinbarte Mehrpersonalisierung, die bereits in der Entgeltbestimmung berücksichtigt wurde, kann vielerorts nicht umgesetzt werden.

Der Rothgang-Effekt

Der Rothgang-Effekt beschreibt den systematischen Austausch von Bewohnern mit höheren Pflegegraden (PG 4 und 5) durch Bewohner mit niedrigeren Pflegegraden (v.a. PG 2 und 3) durch die normale Fluktuation in den Pflegeheimen. Zunehmend werden Pflegebedürftige in den Heimen aufgenommen, die den Pflegegrad durch eine Begutachtung mit dem neuen Instrument (NBI) erhalten haben und nicht durch die Überleitungsformel zum 01.01.2017. Die Begutachtung kommt systematisch zu niedrigeren Pflegegraden als durch die Überleitungsformel vorgegeben. Diesen Effekt hat eine von der rosenbaum nagy unternehmensberatung durchgeführte Befragung von über 160 Einrichtungen bestätigt. In den ersten 9 Monaten hat sich die Zahl der Bewohner in den Pflegestufen 4 und 5 um 3,5 bzw. 10% in Richtung niedrigerer Pflegegrade verringert.

Mehrpersonalisierung

Der andere Faktor, der zu einer Fehleinschätzung der tatsächlichen wirtschaftlichen Situation verleitet, ist die Mehrpersonalisierung, die in einigen Bundesländern im Rahmen der Überleitung umgesetzt wurde. Die Kosten für zusätzliches Pflegepersonal wurden bei der Kalkulation der einrichtungseinheitlichen Eigenanteile entsprechend berücksichtigt. In den Ländern, in denen konkrete Verbesserungen der Personalausstattung eingeplant wurden, mussten die Personalmengen in den Häusern z.T. deutlich erhöht werden. Der Personalmarkt ist allerdings extrem angespannt und viele Träger konnten den Vorgaben aus der Mehrpersonalisierung nicht oder nur deutlich verspätet nachkommen.

In Kombination führen diese beiden Faktoren (Mehrpersonalisierung und Rothgang-Effekt) bei der Betrachtung der wirtschaftlichen Lage der Einrichtungen zu einer deutlichen Ergebnisverzerrung. Der in einigen Bundesländern eingepreiste Rothgang-Effekt wurde durch einen prozentualen Risikoaufschlag bei der Kalkulation der Pflegesätze bereits vorweg genommen. Tritt er tatsächlich aber erst in geringerem Umfang bzw. zeitverzögert ein, dann erwirtschaften die Einrichtungen in der Zwischenzeit einen erheblichen zusätzlichen Deckungsbeitrag. Ein ähnlicher Effekt ergibt sich in den Bundesländern, in denen eine Mehrpersonalisierung vorgesehen war. Können die Träger kein entsprechendes Personal einstellen, erzielen sie über den entsprechenden Zeitraum, durch die höheren Erlöse ohne entsprechende Kostenentwicklung deutliche Überschüsse. Es sollte gezielt untersucht werden, auf welchen Faktoren diese positiven Ergebnisse beruhen. Es besteht das Risiko, dass sich die aktuell positiv auswirkenden Effekte langfristig reduzieren bzw. Nachforderungen drohen und somit die tatsächliche wirtschaftliche Schräglage erst nachträglich erkennbar wird.

Anpassungen der Unternehmenssteuerung

Ausgehend von diesen Erkenntnissen ist es von besonderer Wichtigkeit, die einrichtungsindividuelle Ausgangslage zu bewerten und entsprechende Anpassungen der Unternehmenssteuerung vorzunehmen. Hierzu empfiehlt sich nachfolgendes Vorgehen:

  1. Standortbestimmung
  2. Entwicklung und Bewertung von Verhandlungsszenarien
  3. Pflegesatzverhandlungen

1. Standortbestimmung

Im Rahmen der Standortbestimmung sollten die Einrichtungen/Träger ihre individuellen und von den landesspezifischen Regelungen ausgehenden Risiken bestimmen und bewerten. Ganz grundsätzlich kann festgehalten werden, dass durch die Pflegestärkungsgesetze neue Risikoquellen hinzugekommen sind.

Im Rahmen der Standortbestimmung sollten deshalb folgende Zusammenhänge untersucht werden:

  • Analyse des Einrichtungseinheitlichen Eigenanteils (EEE)
  • Ermittlung der Deckungsbeiträge oder -lücken je Pflegegrad
  • Ermittlung der erlösorientierten Personalschlüssel
  • Beobachtung der Entwicklung der Pflegegradstruktur

2. Entwicklung und Bewertung von Verhandlungsszenarien

Ausgehend von dieser Standortbestimmung, müssen die sich ergebenden Risiken und Chancen in ihrer Wechselwirkung betrachtet werden.  

Im Rahmen eines umfassenden Risikomanagements sollte die aktuell geltende Pflegesatzvereinbarung anhand der tatsächlichen Kosten "nachkalkuliert" werden. Ergebniseffekte, die sich aus der Unterschreitung verhandelter Kosten ergeben, sollten demnach getrennt dargestellt werden und nicht als dauerhafte Ergebnisverbesserung angesehen werden. Dies gilt im Besonderen im Kontext der jüngsten Änderungen des SGB XI in Bezug auf Nachweispflichten und Regressansprüche. Im Gegenzug sollten ebenfalls diejenigen Kostenpositionen, die nicht auskömmlich verhandelt wurden, identifiziert werden. Hier sollte die Zielsetzung sein, durch einen entsprechenden Nachweis der Kostensteigerung auch die tatsächlichen Kosten im Rahmen der nächsten Pflegesatzverhandlung durchzusetzen.

3. Pflegesatzverhandlungen

Ergeben sich deutliche Abweichungen der Kosten von den Verhandlungswerten oder eine Verschiebung der Bewohnerstruktur hin zu defizitären Pflegegraden mit eindeutig negativen Ergebnisfolgen, sollte eine Verhandlung gesucht und systematisch vorbereitet durchgeführt werden. Können aktuelle Sondereffekte der Gesetzesumstellung zugunsten der Einrichtung genutzt werden, kann es u.U. die strategisch bessere Entscheidung sein, Verhandlungen zunächst aufzuschieben.

Im Rahmen der Pflegesatzverhandlung sollte gezielt die veränderte Pflegegradstruktur verhandelt werden, außerdem sollten die Sachkosten umfassend dargelegt und plausibilisiert werden. Je nach Landesrahmenvereinbarung sollte zudem untersucht werden, ob mit Hilfe von bestehenden Personalschlüssel-Korridoren oder erlösorientiert bestimmbaren Personalschlüsseln das Risiko der Unterdeckung bei einzelnen Pflegegraden verringert werden kann. Und natürlich sollte die Gewinnkomponente im Pflegesatz nicht vergessen werden.

Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass die grundlegende Standortbestimmung zur Identifikation der Einzelrisiken sowie die kombinierte Betrachtung der Risikowechselwirkungen im Rahmen der Szenario-Analysen eine fundamental wichtige Rolle bei der Neuausrichtung der Unternehmenssteuerung stationärer Einrichtungen spielen. Nur mit Hilfe einer umfassenden Kenntnis der eigenen Unternehmenssituation, kann die Steuerung erfolgreich gestaltet werden.

Um zuverlässige Antworten auf diese Fragen zu erhalten, haben wir ein Kalkulationsinstrument entwickelt, mit dem die unterschiedlichen Handlungsszenarien dargestellt und für die Verhandlungsstrategieentwicklung bewertet werden können. Aktuell unterstützen wir so mehrere Träger bei der Standortbestimmung und Entwicklung einer Verhandlungsstrategie.

Roman Tillmann (Diplom-Kaufmann, Geschäftsführender Partner bei der rosenbaum nagy unternehmensberatung GmbH), E-Mail: tillmann@rosenbaum-nagy.de, Telefon 0221 – 5 77 77 50

Weitere Informationen zur Unternehmenssteuerung nach den Pflegestärkungsgesetzen finden Sie hier: http://www.rosenbaum-nagy.de/psg-check.html