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COVID – 19 – Pandemie und individuelle Bewohner- und Angehörigenrechte: Schutz vor „Einschleppen“ des Corona – Virus steht höher als negative Auswirkungen auf die Psyche des Einzelnen?!
Es gibt keine Altenpflegeeinrichtung und auch kaum eine ambulant betreute Wohngemeinschaft die derzeit nicht behördlich und / oder träger- / anbieterseits angeordneten oder faktisch eingeführten Besuchs- und Betretungsverboten unterliegt. Dass dies nicht unumstritten ist, ist bekannt. Dass dies auch Gegenstand von verwaltungsgerichtlichen Verfahren werden würde, war zu erwarten.

Das VG Hannover hat am 16.04.2020 in einem Eilverfahren entschieden, dass die Allgemeinverfügung des Landkreises Hildesheim, mit der ein Besuchs- und Betretungsverbot u.a. auch für ambulant betreute Wohngemeinschaften angeordnet wird, voraussichtlich rechtmäßig ist. Das Verfahren initiiert hatten eine Bewohnerin einer sog. "Intensiv – Pflege – WG", die nicht dem nds. NuWG unterliegt (also eine sog. selbstverantwortete / selbstorganisierte WG) und ihr Sohn und gerichtlich bestellter Betreuer. Ihr Antrag richtete sich gegen die vom Landkreis Hildesheim wegen der Corona-Epidemie am 09.04.2020 erlassene Allgemeinverfügung, mit der u.a. ein Besuchs- und Betretungsverbot für ambulant betreute Wohngemeinschaften nach § 2 Abs. 3 NuWG, für Formen des betreuten Wohnens nach § 2 Abs. 4 NuWG sowie für ambulant betreute Wohngemeinschaften zum Zweck der Intensivpflege, die nicht in den Geltungsbereich des NuWG fallen, angeordnet wird. Ihr Argument: Das Besuchs- und Betretungsverbot sei unverhältnismäßig und aufgrund seiner erheblichen Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden der betroffenen Patienten nicht geeignet, die Gesundheit der Bewohner zu erhalten. Zudem gäbe es mildere Schutzmittel, wie z. B. die Verpflichtung des Tragens von Atemschutzmasken, die den Schutzzweck erfüllten.
Das VG Hannover folgte dieser Argumentation nicht, wobei besonders zu erwähnen ist, dass die Entscheidung im Eilverfahren aufgrund summarischer Prüfung erging.
Das Gericht stützte sich dabei im Wesentlichen auf drei Argumente: Erstens sei die erhebliche Gefährdung der Gesundheit und des Lebens nicht nur der gerichtlichen Rechtsschutz nachsuchenden Bewohnerin, sondern insbesondere auch der übrigen Bewohner der WG sowie der Pflegekräfte höher zu bewerten als der in jeder Hinsicht anzuerkennende und nachvollziehbare dringende Wunsch der beiden Antragsteller nach einem persönlichen Besuchskontakt und die mit dem Besuchsverbot verbundenen, vom Gericht anerkannten, schwerwiegenden Grundrechtseingriffe. Auch die Bewohner von Pflegewohngemeinschaften gehörten typischerweise zu einer besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppe. Zweitens gebiete die spezifische Gefährdungssituation der (anderen) Bewohner der Intensiv – WG, die allesamt tracheotomiert seien, das Zurückstehen der individuellen psychischen Belastung in Folge des Besuchsverbots wegen des gesteigerten Risikos eines tödlichen Verlaufs im Falle einer Infektion. Drittens berge die Haushaltsgemeinschaft die (besondere) Gefahr, dass sich eine nicht sofort entdeckte Ansteckung unter allen Bewohnern und auch Pflegenden in der WG ausbreite, da ein Kontakt zwischen den Bewohnern und den Pflegern nicht ausgeschlossen werden könne (tatsächlich: der Regelfall und angebotstypisch ist!). Die Risiken einer Ansteckung könnten dadurch minimiert werden, dass die in der WG lebenden und arbeitenden Menschen möglichst wenig direkten Kontakt zu außenstehenden Personen haben.
Daraus folgerte das Verwaltungsgericht, dass bei dem derzeit allgemein begrenzten Kenntnisstand zur COVID – 19 – Pandemie keine milderen Mittel ersichtlich seien, die zumindest gleichermaßen effektiv wie ein Besuchs- und Betretungsverbot seien. Das Tragen von Atemschutzmasken komme als mildere Maßnahme nicht in Betracht, da derartige Masken ohne Luftfilter nach den bisherigen Erkenntnissen nur begrenzten Schutz böten. Hinsichtlich weiterer professioneller Schutzkleidung bestehe die Problematik, dass diese derzeit nur in sehr eingeschränktem Umfang zur Verfügung stehe und zudem besonderer Vorsicht und Sorgfalt bei der Nutzung bedürfe, und selbst aus einem bei Besuchern der WG durchgeführter Coronatest ist in den Augen des Gerichts (und nicht nur des Gerichts, sondern wissenschaftlich erwiesen!) keine Aussage dazu zu entnehmen, ob zum Zeitpunkt des Besuchs eine Infektion vorliege oder nicht.
Das Gericht berücksichtigte bei seiner Entscheidung schließlich auch, dass das fragliche Besuchsverbot zeitlich befristet angelegt sei und Ausnahmeregelungen, wie etwa den Besuch durch nahestehende Personen von palliativmedizinisch versorgten Bewohnern, vorsehen würde, wodurch besonderen Härtefällen Rechnung getragen werde. In Bezug auf die Befristung gab das VG Hildesheim den Behörden – und in Bezug auf andere Länder: den Verordnungsgebern – allerdings mit auf den Weg, dass insbesondere bei fortschreitender Zeitdauer der Pandemie eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit derartiger Maßnahmen vorzunehmen und zu untersuchen sei, ob es angesichts dann neuer Erkenntnisse – etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems – verantwortet werden kann, Besuchs- und Betretungsverbote – ggfls. unter strengen Auflagen – zu lockern bzw. aufzuheben.
Klare Worte: Das allgemeine Besuchsinteresse des Einzelnen, des Bewohners wie auch seiner Angehörigen, muss selbst bei potentiellen psychischen Beeinträchtigungen bei den Betroffenen hinter dem spezifischen Schutzinteresse aller in der WG lebenden und arbeitenden Personen zurückstehen. Das klingt nicht nur, sondern ist auch hart, aber letztlich richtig. Die Entscheidung, gegen die Beschwerde zum OVG Lüneburg möglich ist, stützt sich dabei – und das ist für alle Begleiter von Wohngemeinschaften – gleich welcher heimrechtlichen Provenienz – wichtig, nicht nur für Intensiv – WGen, sondern auch für "normale" Pflegewohngemeinschaften zu nutzen, auf die spezifische Risikolage. Diese Risikolage ist nicht vom heimrechtlichen Regime der Wohngemeinschaft abhängig, sondern – wie das Verwaltungsgericht richtig ausführt – maßgeblich von der Schutzbedürftigkeit, "Vulnerabilität", der Nutzer. Und: auch der Schutz des Pflegepersonals überwiegt Individualinteressen – auch das ist in derartigen Gefährdungslagen richtig. Der Ausfall von kompletten Pflegeteams, ob nun wegen tatsächlicher Positivtestung oder nur aus anderweitig gebotener Quarantäne und das nur, nur weil ein Besucher das Virus eingeschleppt hat, ist nicht akzeptabel.
Verantwortungsvolle Begleiter von Wohngemeinschaften sollten die Erwägungen des Gerichts als Entscheidungs- wie aber auch Argumentationshilfe nehmen, wenn es in diesen Zeiten um die Abwägung von Individual- und Allgemeininteressen in Wohngemeinschaften geht. Und vor allem adressiert an Begleiter von sog. selbstverantworteten Wohngemeinschaften: Die Beantwortung der Frage, wer kommt noch in die Wohngemeinschaft hinein und wer nicht und bei welchen Rahmenbedingungen bzgl. "Besuchsregelungen" kann ein verantwortungsvoller Dienst die Betreuung und Versorgung dann (noch) aufrechterhalten, hat – ungeachtet aller Unklarheiten zur Frage einer Garantenstellung – jedenfalls haftungs- und ggfls. auch strafrechtliche Implikationen. Jeder Dienst sollte tunlichst sehen, nicht auf dieses unsichere Terrain zu geraten!
Last not least: Die Entscheidung ist zwar auf WGen als kleinteilige Angebote bezogen, ist aber in den Erwägungen erst recht auf große vollstationäre Einrichtungen übertragbar – "Besuchskonzepte" hin oder her. Das gegenwärtige Infektionsgeschehen in diesen ist – soweit ersichtlich – deutlich gravierender als das in Wohngemeinschaften.
Verfahren: VG Hannover, Beschluss vom 16.04.2020, AZ 15 B 2147 / 20
Mehr: Pressemitteilung des VG Hannover v. 16.04.2020 – Download: https://www.verwaltungsgericht-hannover.niedersachsen.de/aktuelles/pressemitteilungen/eilantrag-gegen-die-allgemeinverfugung-des-landkreises-hildesheim-vom-09-april-2020-hat-keinen-erfolg-187509.html
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