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Blog: Betreutes Wohnen mit Tagespflege ab 2021

Die Eckpunkte des BMG zur “Pflegereform 2021” sehen u. a. vor, die Tagespflegeleistungen für Mieter im Betreuten Wohnen auf 50 Prozent zu kappen. Eine verheerende pflegerechtliche Irrfahrt, die es zu stoppen gilt – je früher, desto besser!

Dr. Lutz H. Michel
Foto: Privat Der Autor Dr. Lutz H. Michel ist Rechtsanwalt und Chartered Surveyor in Köln. Kontakt: www.radrmichel.de Schreiben Sie einen Kommentar links oben in das Kommentarfeld!

Herr Rothgang und die These von angeblichen Fehlanreizen im Leistungssystem der ambulanten Pflege lassen grüßen: Die Eckpunkte einer Pflegereform 2021 aus dem Hause Spahn greifen – völlig unverständlicherweise – die bisher nicht wissenschaftlich belegte These auf, wonach die “Kombination” von Angeboten des Betreuten Wohnens, aber auch ambulant betreuter Wohngemeinschaften mit Angeboten der Tagespflege, als fehlgeleitete “Stapelleistungen” zu brandmarken und abzuschaffen seien, und kündigen – wörtlich – an: “Fehlanreize im Versorgungssystem beseitigen: Anbieter setzen mittlerweile immer häufiger auf Projekte, die betreutes Wohnen mit dem Angebot von Tagespflege kombinieren. Ältere Menschen erhoffen sich durch diese neuen Wohnformen mehr individuelle Freiheit sowie eine geringere finanzielle Belastung, ohne Abstriche in der Versorgungssicherheit machen zu müssen. Studien zeigen jedoch, dass diese Hoffnung nicht selten spätestens bei Eintritt höheren Unterstützungsbedarfs trügerisch ist. Die Attraktivität für Anbieter solcher Modelle ergibt sich häufig aus der Kombination aller im ambulanten Bereich möglichen Leistungen in einem vermeintlich stationären Pflegesetting, ohne jedoch die Anforderungen eines klassischen Pflegeheims erfüllen zu müssen. Um die Nutzung solcher Versorgungsformen nicht unangemessen zu privilegieren, sollen bei Inanspruchnahme von ambulanten Pflegesach- und / oder Geldleistungen die Leistungen der Tagespflege ab dem 1. Juli 2022 auf 50 Prozent begrenzt werden.”

Der Unwissende wundert sich, der Wissende reibt sich die Augen und fragt sich: Habe ich wirklich das gelesen, was ich da gelesen habe? Denn: Die Unterstellungen und Prämissen des geplanten Kahlschlags finden erstens keinerlei Belege und sind zweitens auch nicht richtig. Ausgangspunkt ist wohl die Rothgang – Studie zum Barmer Pflegereport aus 2019, wo nach “Nach der Literaturstudie” resümiert wird: “Keine eindeutigen pflegerelevanten Qualitätsvorteile gegenüber dem Pflegeheim” beim Betreuten Wohnen wie bei Pflege – WGen und dann anhand der “Auswertung der Routinedaten” festgestellt wird: “In Betreutem Wohnen: Mehr Dekubitusfälle und mehr ambulant-sensitive Krankenhausfälle” sowie “In Betreutem Wohnen und in Pflege-WGs: Weniger Kontakte zu Hausärzten und zu Nervenärzten sowie weniger Antipsychotikaverordnungen bei Demenz und keine Unterschiede bezüglich der Harnwegsinfektionen” gegenüber vollstationären Angeboten.

Unabhängig davon, ob diese Erkenntnisse überhaupt signifikant für Geetzgebung sein können, unterliegt die Liaison Rothgang & Spahn dem Äpfel und Birnen-Irrtum: Weder ist Betreutes Wohnen als Stand-alone-Angebot eine stationäre Vollversorgung, noch ist dies ein Betreutes Wohnen, das – wie alles Wohnen! – den Mietern die Option der Inanspruchnahme von Tagespflege gibt. Und: weder das eine, noch das andere will es sein. Es gibt keinerlei Belege, dass eine Vollversorgung die Erwartung der einziehenden Mieter ist. Und: Die Recherche der Angebote, die solchen “Missbrauchscharakter” haben könnten, zeigt keinerlei Hinweise, dass – irreführend – damit geworben werden würde. Damit ist die Prämisse: Mieter im Betreuten Wohnen mit einer Tagespflege “in der Nachbarschaft” erwarten eine Versorgungssicherheit wie im “Heim”, schlichtweg aus der Luft gegriffen. Und es ist nirgendwo belegt, dass Vertrauen in Betreutes Wohnen “trügerisch” ist: Herr Spahn mag einmal die Auszugsgründe aus Betreutem Wohnen analysieren lassen und ins Staunen kommen: Nach meinen internen Statistiken als Gutachter für die DIN 77800 – Betreutes Wohnen sind es weniger als 10 Prozent der Mieter, für die Betreutes Wohnen im “Heim” endet. Es ist für einen Juristen bemerkenswert, dass ein Gesetzgebungsvorschlag auf Luftnummern basiert wird. Damit aber nicht genug: Die diagnostizierten “Dekubitusfälle” und “ambulant – sensitiven Krankenhausfälle” im Betreuten Wohnen sind mehr als ein schwaches Argument: Herr Rothgang hätte einmal – siehe oben das Äpfel und Birnen-Problem – die Zustände in klassischen häuslichen Versorgungen mit Versorgungssettings im Betreuten Wohnen vergleichen sollen unter Anziehung vergleichbarer (!) Personengruppen. Aber leider auch hier: Fehlanzeige oder wenigstens: Beweis für die Notwendigkeit weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen. Das gilt auch für die Seitenhiebe auf ambulant betreute Wohngemeinschaften! Zudem – last not least: Herr Spahn möge einmal Ross und Reiter nennen und Belege bringen, dass das von ihm gebrandmarkte “Geschäftsmodell” wirklich eine kostenmäßige Relevanz hat. Es schockiert, wenn Gesetzgebung auf derart wackelige Füße gestellt werden soll.

Dass Herr Spahn zu diesen Eckpunkte-Ideen gelangt, wundert umso mehr, als Herr Rothgang auf S. 166 seiner Studie selbst wörtlich formuliert: “Die vorgelegten Analysen (siehe oben – der Verfasser) weisen aber auf die Gefahr hin, dass sich stattdessen Versorgungsangebote etablieren, die zu höheren Ausgaben der Pflege- und der Krankenversicherung und damit zu einer Belastung der Beitragszahler führen, ohne entsprechende Qualitätsgewinne zu realisieren. Die Akteure der Pflegepolitik sollten die Entwicklung daher genauestens beobachten, die Qualität der ambulanten Versorgungsformen im Vergleich zur Heimversorgung evaluieren …”. Was hier noch wissenschaftlich – vorsichtig formuliert wird, wird von Herrn Spahn ignoriert: Er hat wohl selektiv gelesen, wenn es bei Herrn Rothgang weiter heißt: “…und gegebenenfalls gesetzgeberische Maßnahmen ergreifen, die Geschäftsmodelle verhindern, die lediglich zur Gewinnsteigerung der Anbieter führen, ohne erkennbare Vorteile für die Pflegebedürftigen mit sich zu bringen.” Also bei Herrn Rothgang: erst Evaluation, dann Gesetzgebung! Bei Herrn Spahn: Gesetzgebung ins Blaue. Und das alles unter dem Leitmotiv “nachhaltig” und “zukunftsfest”?! Man wundert sich: Also Pflegepolitik nach Kassenlage oder besser – siehe DAK (!) – Pflegereport – im Kasseninteresse?! Und das alles ohne breiten fachlichen Diskurs – angesichts COVID – 19 ziemlich unmöglich! – ein “legislatorisches Unding” zu Lasten der pflege- und betreuungssuchenden Mieter betreuter Wohnformen!

Was Pflegende, Pflegeunternehmen und Pflegerechtler – und zwar nicht nur in diesen Zeiten – wirklich nicht brauchen, sind weitere legislative Irrungen und Wirrungen mit minimaler Halbwertszeit – und schon gar nicht solche von einem angeblich scheidenden, weil nach höherem strebenden Bundesgesundheitsminister – wie die Auguren kolportieren! Oder anders formuliert: Ab in die Schublade mit einer unausgegorenen, überflüssigen und nicht in die heutigen Zeiten passenden weiteren Pflegereform – je schneller desto besser!