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Abnahme der hohen Pflegegrade: Systematische Veränderung der Pflegegradstruktur und wie Sie darauf reagieren sollten

Der rosenbaum-nagy-Pflegegrad-Benchmark untersucht die Veränderung der Pflegegradstruktur in vollstationären Einrichtungen. Im Jahr 2017 konnten über 170 Einrichtungen für die Teilnahme gewonnen werden, dies entspricht in etwa 14.000 vollstationären Plätzen. Eine der zentralen Erkenntnisse der Untersuchung ist, dass sich die Pflegegradstruktur in den Einrichtungen systematisch verschlechtert hat. Bei zwei Dritteln der teilnehmenden Einrichtungen hat sich die Pflegegradstruktur im Vergleich zur Überleitung verschlechtert, im Durchschnitt um 0,14 Pflegegrade. Lediglich bei einem Drittel ist sie konstant geblieben oder hat sich verbessert.

Tillmann Roman
- Roman Tillmann, rosenbaum nagy

Mit dem rnu-Benchmark der Pflegegradstruktur wurde ein Instrument initiiert, welches das vielfach diskutierte Thema der Pflegegradstrukturveränderung systematisch analysiert. Die nachfolgende Abbildung zeigt, dass sich die Pflegegradstruktur im Jahresverlauf systematisch hin zu niedrigeren Pflegegraden verschoben hat.

 

Dabei hat diese Veränderung im Jahresverlauf an Dynamik gewonnen. Die Abnahme des Anteils der Pflegegrade 4 und 5 an der Gesamtbewohnerstruktur (in Prozentpunkten) von insgesamt -0,5 % im ersten Quartal hat sich im Jahresverlauf auf -2,7 % erhöht. Die Abnahme in den hohen Pflegegraden wurde durch einen Anstieg in den niedrigeren Pflegegraden ausgeglichen.

Wird die relative Veränderung innerhalb der einzelnen Pflegegrade betrachtet, also die prozentuale Zu- oder Abnahme des Anteils der Bewohner in den betrachteten Pflegegraden am 31.12.2017 im Vergleich zum Überleitungszeitpunkt, ergibt sich folgendes Bild: Der Anteil der Bewohner im Pflegegrad 4 hat sich um -2,28 % und der im Pflegegrad 5 um -11,48 % verringert, gleichzeitig ist der Anteil in den Pflegegraden 2 (+4,80%) und 3 (+5,99 %) deutlich gestiegen. Dieser Effekt wird auch als Rothgang- oder Zwillings-Effekt bezeichnet und findet seine Begründung in der Überleitungssystematik des Pflegestärkungsgesetzes 2. Durch die großzügigen Überleitungsregelungen wurden viele Bewohner einem höheren Pflegegrad zugeordnet, als dies durch ihren individuellen Versorgungsbedarf eigentlich gerechtfertigt gewesen wäre. Bewohner, die im Laufe des Jahres 2017 eingezogen sind und bereits nach dem neuen Begutachtungsinstrument eingestuft wurden, erhalten einen niedrigeren Pflegegrad, bei einem Bewohnerwechsel vollzieht sich so in vielen Fällen eine systembedingte Verschlechterung der Pflegegradstruktur.

Diese systembedingte Verschlechterung der Pflegegradstruktur hat direkten Einfluss auf die Steuerung von vollstationären Einrichtungen. Die aufgezeigten Veränderungen führen zu einem Erlösrückgang, auf den im Rahmen der Steuerung mit einer Reduktion des einzusetzenden Personals im Bereich Pflege reagiert werden muss. Im Kontext der Umstellungen der Pflegestärkungsgesetze hat sich jedoch durch die Einführung des einrichtungseinheitlichen Eigenanteils auch die Personalsteuerung gravierend verändert. Durch die Mischkalkulation des einrichtungseinheitlichen Eigenanteils und die nicht daran angepassten Personalschlüssel gibt es defizitäre und kostendeckende Pflegegrade. Verändert sich die Pflegegradstruktur unterjährig, kann es je nach bundeslandspezifischen Rahmenbedingungen zu erheblichen Ergebniseinbußen kommen.

Diese Mischkalkulation der Pflegesätze lässt sich am Besten mit Hilfe der folgenden Abbildung erläutern:

 

 

Für jeden Pflegegrad gibt es einen spezifischen Erlös, der sich aus dem einrichtungseinheitlichen Eigenanteil sowie dem Leistungsbetrag der Pflegeversicherung zusammensetzt (graue Balken). Diesem Erlös stehen bestimmte Aufwendungen gegenüber (blaue Balken). Zum Einen die pflegegradunabhängigen Aufwendungen, die zwar über den Pflegesatz für Pflege und Betreuung refinanziert werden, aber nicht für den direkten Pflegepersonaleinsatz bestimmt sind ("Sonstige Aufwendungen"). Hierzu zählen z.B. Kostenanteile für Leitung und Verwaltung, den Sozialen Dienst aber auch Sachkosten, wie der medizinisch-pflegerische Bedarf oder Wasser- und Energiekosten. Zum Anderen ergeben sich pflegegradabhängig die Personaleinsatzkosten. Diese werden durch die jeweils geltenden Landes- (oder einrichtungsindividuellen) Personalschlüssel je Pflegegrad sowie die trägerspezifischen Personalkosten vorgegeben. Die Gegenüberstellung von Kosten und Erlösen in den jeweiligen Pflegegraden macht die Mischkalkulation des einrichtungseinheitlichen Eigenanteils deutlich: Bestimmte Pflegegrade erzielen mehr Erlöse als Aufwendungen anfallen – es entsteht ein positiver Deckungsbeitrag, bei anderen ist die Verteilung genau umgekehrt – es ergibt sich ein negativer Deckungsbeitrag. Zum Verhandlungszeitpunkt gleichen sich die negativen und positiven Deckungsbeiträge in der Gesamtbetrachtung kostendeckend aus, verändert sich die Belegungsstruktur einer Einrichtung unterjährig jedoch erheblich, erlangt die Deckungsbeitragsstruktur direkte Ergebniswirksamkeit.

Grundsätzlich muss die Deckungsbeitragsstruktur einrichtungsindividuell bestimmt werden, um die jeweiligen Chancen und Risiken bestimmen zu können. In einigen Bundesländern wie z.B. Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern sind jedoch übergeordnet Verteilungsmuster zu erkennen: In den niedrigen Pflegegraden ergeben sich häufig negative Deckungsbeiträge und in den hohen positive. Erfolgt bei einer Einrichtung der hier dargestellte Austausch hoher Pflegegrade durch niedrigere, wird dies das Ergebnis deutlich belasten: Pflegebedürftige in Pflegegraden mit positivem Ergebnisbeitrag werden durch solche mit einem negativen ersetzt. Die sich dadurch ergebende doppelte negative Ergebniswirkung summiert sich schnell zu Beträgen im mittleren fünfstelligen Bereich. Aus diesem Grund wird eine einrichtungsindividuelle Prüfung der bestehenden Chancen und Risiken empfohlen. Nicht nur von Bundesland zu Bundesland ergeben sich große Unterschiede, sondern auch zwischen verschiedenen Einrichtungen.

Insbesondere im Kontext von anstehenden Vergütungsverhandlungen ist es von besonderer Bedeutung, diese Faktoren zu berücksichtigen. Wir empfehlen für die anstehenden Verhandlungen eine systematische Strategieentwicklung. Dieser Strategieentwicklung liegt eine dezidierte Szenario-Erstellung und -Bewertung zu Grunde, bei der die unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten herausgestellt und das erfolgversprechendste Szenario ausgewählt wird. Im Gegensatz zu früheren Verhandlungen ist die Belegungsstruktur dabei zukünftig ein wichtiger Erfolgsfaktor. Wird hier die prospektive Belegung zum Nutzen des Trägers verhandelt, können zusätzliche positive Ergebniseffekte erzielt werden, wird sie nachteilig verhandelt oder aus mangelnder Informationsverfügbarkeit einfach fortgeschrieben, ergeben sich u.U. erhebliche Ergebnisverluste.

Hierbei ist es von besonderer Bedeutung, tatsächlich auch die multidimensionalen Auswirkungen im Blick zu behalten. Veränderungen der Belegungs- oder Kostenstruktur haben direkten Einfluss auf die Höhe des neuen einrichtungseinheitlichen Eigenanteils. Gleichzeitig wird dieser jedoch auch direkt durch die Rahmenbedingungen in den Ländern beeinflusst. Im Rahmen des Benchmarks der Pflegegradstrukturveränderung (66% der teilnehmenden Einrichtungen haben in 2017 bereits verhandelt) konnte so eine signifikante Steigerung des EEE beobachtet werden. Im Durchschnitt stieg der EEE um 14,9 %, die Einrichtung mit der höchsten Entgeltsteigerung erhöhte ihr Entgelt um 140 %. Dies ist eine deutlich höhere Preisdynamik, als sie aus der Vergangenheit bekannt war.

Im Rahmen der Pflegesatzverhandlungen sollte demnach immer auch die Kundenperspektive bei anstehenden Preissteigerungen mit berücksichtigt und in die zu definierende Verhandlungsstrategie integriert werden. Die steigende Komplexität der Rahmenbedingungen in der Altenhilfe wirkt sich demnach auch auf die Pflegesatzverhandlungen aus – Die Träger sollten sich entsprechend vorbereiten, ihre Steuerungssysteme anpassen und die anstehenden Verhandlungen systematisch vorbereiten.

Roman Tillmann (Diplom-Kaufmann, Geschäftsführender Partner bei der rosenbaum nagy unternehmensberatung GmbH), E-Mail: tillmann@rosenbaum-nagy.de, Telefon 0221 – 5 77 77 50